Das vergessene Kleid

Ein festlicher Gottesdienst, alle kramen ihre Festtagskleidung hervor und putzen sich heraus. Vor allem die Familien der Schulabgänger haben sich in Schale geworfen. Bei herrlichem Sonnenschein bleibt vor dem Gottesdienst Zeit zum plaudern, sehen und gesehen werden. Da passiert das Unglaubliche, etwas so Unwahrscheinliches, dass es mich noch den ganzen Tag erheiterte...

Aus den Augen aus dem Sinn...


Meine Mutter, auch unter den Gästen, kommt zielstrebig auf mich zu. Auf eine Art, da weiss ich sofort; jetzt kommt's dick. Was folgt ist eine Beichte der besonderen Art: "Andrea, schau dir mal das Kleid von Anna* an..." Ich lasse meinen Blick zu Anna schweifen und er bleibt an ihrem Kleid kleben. Da ist dieser Déjà-Vu Moment; meine Augen erkennen etwas was mein Hirn noch nicht begreifen kann. 

Es ist keines von H&M, welches in der Schweiz noch Dutzende tragen. Im Gegenteil; dieses Kleid wurde massgeschneidert angefertigt mit auserwähltem Stoff aus Myanmar, genäht von einer Schneiderin in Thailand, angepasst an die Vorstellungen der Besitzerin. Es hat den  typischen Schnitt der Asiatischen Wickelröcke und ist in jeder Hinsicht ein Unikat! Es gehört mir! Wie? Warum? Seit wann? Wie...???

Meine Mutter erklärt mir, dass ich dieses Kleid vor 3 Jahren(!) meiner Schwester für ein Hochzeit ausgelehnt habe. Nach diesem Anlass, wollte meine Mutter es mir sauber zurück geben und brachte es zur Reinigung. Dort wurde es gereinigt, aufgehängt und nie mehr abgeholt. "Aus den Augen aus dem Sinn" - meine Mutter hat das Kleid vergessen. Und nun kommt Anna ins Spiel. Anna, eine weise und wirtschaftliche Hausfrau, weiss, dass man in der Reinigung zum Reinigungspreis Kleider kaufen kann, die von ihren Besitzern vergessen wurden. Für den Schulabschluss ihres Sohnes braucht sie noch ein schönes Kleid und findet dieses Unikat am Bügel. Sie lässt es sich anpassen und trägt es mit Stolz an eben diesem Anlass, an dem es mir und meiner Mutter wieder unter die Augen und in den Sinn kommt!

Nach einer Verknüpfung so vieler lustiger Versäumnisse und Zufällen, kann ich meiner Mutter einfach nicht böse sein und muss herzhaft lachen. 

Meine "Schuld" an diesem Umstand ist ja auch nicht gerade klein, denn wie kann es kommen, dass ich ein so einzigartiges Kleid nie vermisst habe  in meinem Kleiderschrank? Wahrscheinlich liegt es an der wenig schmeichelhaften Tatsache, dass das massgeschneiderte Stück an einer viel schlankeren, kinderlosen Version meiner Selbst gemessen wurde. Spätestens nach dem zweiten Kind, konnte selbst der Wickelrock nicht mehr einfach ein wenig lockerer gebunden werden, und das Kleid wurde zum Schrankhüter...

So freute sich Anna umso mehr, die übrigens schon Angst hatte sie müsse das Kleid auf der Stelle ausziehen, als ich ihr von Herzen und mit Lachen, sagen konnte:"Das Kleid steht dir ausgezeichnet! Behalte es."

 

*Name geändert


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