Hand in Hand

Meine Schwester lebt in Rumänien und zusammen mit meinen Mädels,  durfte ich diesen Herbst einen Einblick in ihren Alltag haben, der einerseits so ähnlich von meinem ist und andererseits doch ganz anders. Einer der grossen Unterschiede ist, dass sie die Kinder mit dem Auto zur Schule fahren und auch wieder abholen müssen. Das bedeutet Zeit- und Organisationsaufwand. Meine Schwester nimmt das gelassen, denn es ist nun einmal einfach so. Ich wurde innerlich dankbar für die Möglichkeit und Freiheit, meine Kinder am Morgen mit einem Kuss an der Haustüre zu verabschieden und sie dann losziehen zu lassen. Mein Sohn besteht darauf, dass ich jeweils noch aus dem Küchenfenster schaue und ihm hinterherwinke. Er wirft mir eine charmante Kusshand zu und ich lasse ihn vertrauensvoll ziehen. Auf dem Nachhauseweg macht es ihnen dann oft so Spass mit ihren Freunden zu laufen, dass sie die Zeit vergessen und gefühlte Ewigkeiten nichts nach Hause komme. Alles in Allem ein idyllisches "wir Kinder von Bullerbü" Szenario.

 

Diese Woche gab es jedoch einen Vorfall, der mich eine kurze Zeit wünschen liess, dass wir in Rumänien wohnen würden…

"Das Gegenstück zur Angst ist Vertrauen.         Vertauen in Gott und dich selbst."

Eberhard Rau


Meine Tochter kam nach der Nachmittagsschule völlig aufgelöst nach Hause. Aufgelöst ist ein schwaches Wort, denn sie zitterte, weinte und war ausser sich. Mein erster Gedanke war, dass sie irgendeinen Streit mit ihren Freundinnen hatte. Weit gefehlt: "Etwas sehr Schlimmes ist passiert Mamma!" mit behutsamem Fragen brachte ich aus ihr raus, dass sie und ihre Wegbegleiter von einem Mann verfolgt wurden. Wie jeden Montag besuchte sie nach Schulschluss noch den Kindergarten, der auf dem Nachhauseweg liegt und lief dann mit zwei Kindern aus dem Kindergarten nach Hause. Gleich in der Nähe des Kindergartens stand ein Mann und setzte sich mit ihnen in Bewegung. Er lief dicht hinter ihnen und immer, wenn sie stehen blieben, blieb auch er stehen und ging erst weiter, wenn auch sie losliefen. Als sie beim Hause des einen Mädchens Halt machten "lungerte" der Unbekannt dort rum und folgte ihnen dann weiter.

Während ich am Anfang noch versuchte alles rational zu erklären (er hatte halt einfach denselben Weg etc.), kroch sich schleichend das kalte Grauen in meine Glieder. Ein Mann der immer anhält und die Kinder nicht aus den Augen lässt??? Was ist das denn für ein kranker Typ??! Alle meine mütterlichen Alarmglocken schrillten gegen meine Vernunft und Ruhe an. Ich kenne meine Tochter und weiss, wie ängstlich sie in solchen Dingen ist, deshalb blieb ich äusserlich ruhig und gelassen.

"Ich erkannte mit meinen Gedanken genau was der Mann für Gedanken hat", meinte meine Tochter weinend. "Was waren das für Gedanken?"- "Böse Gedanken!"- «Was für böse Gedanken?» Sie schaute mich ernst an und sagte im Brustton der Überzeugung: "Er wollte herausfinden, wo ich wohne und morgen wartet er auf mich und nimmt mich mit dem Auto mit! Du musst mich in die Schule bringen! Ich laufe NIE mehr alleine!" Du meine Güte – Herr schenk mir Weisheit! Ich wollte meine Tochter ernst nehmen und gleichzeitig wollte ich nicht ihre Ängstlichkeit steigern. Ich wollte etwas unternehmen, sie schützen und doch nicht in operative, kopflose Hektik ausbrechen.

 

Ich verspürte die ganze ohnmächtige Hilflosigkeit einer Mutter, die nur eines will: Ihr Kind bis aufs Blut verteidigen und es bewahren vor allem Übel. Ich hätte sie am liebsten zu mir zurück in den Bauch geholt, unter meinem Herzen getragen, mit der beruhigenden Gewissheit, dass sie in Sicherheit ist. Gleichzeitig wusste ich, dass mein Mann und ich uns versprochen haben, unsere Kinder in die Selbständigkeit zu erziehen, ihnen ein ermutigendes Umfeld zu schaffen, damit sie Vertrauen in sich selber finden können.

 

Mir kam plötzlich der Gedanke, zu fragen was wohl die anderen Kinder gedacht oder gesagt haben? Sie war ja nicht alleine unterwegs. Da sagte sie: „Wir haben nicht darüber gesprochen. Aber Janis* hat mit dem Mann gesprochen und ihm gesagt, er solle ihm seinen Brotbeutel öffnen. „Der hat dem Mann sogar gesagt, er solle den Abfall von seinem Znüni wegwerfen!“ meinte sie mit grossen Augen.

 

Ahnt ihr was? Mir fiel es jedenfalls wie Schuppen von den Augen! Vor meinem geistigen Auge sah ich mich am Morgen am Küchenfenster stehen und Janis mit seinem GROSSVATER in den Kindergarten laufen! „Dieser Mann ist der Grossvater von Janis!“ entfuhr es mir völlig entgeistert. "Was??“ meint meine Tochter ebenso erstaunt.

Ihr könnt euch meine Erleichterung vorstellen, als ich realisierte, dass in unserem Quartier keinesfalls ein pädophiler Perversling rumschlich, sondern dass sich meine Tochter mit ihrer blühenden Fantasie, in eine Angst reingesteigert hat, die sie nicht mehr klar denken liess. Der Grossvater holte seinen Enkel ab, der Enkel gab ihm ein knappes „Hallo“ beim Kindergarten und ignorierte ihn dann weitgehend, da er mit seinen gleichaltrigen Freunden beschäftigt war. Im Nachhinein ist diese Begebenheit zum Brüllen komisch. Sie wird bestimmt in die Geschichte unserer Familie eingehen, schafft es vielleicht sogar in eine Präsentation an der Hochzeit meiner Tochter.

 

Trotzdem hat sie mich ins Grübeln gebracht und führte noch zu einem ernsthaften Gespräch mit meiner Ältesten. Wir schauten gemeinsam an, was Angst mit einem macht – man kann nicht mehr klar denken und unterstellt Leuten sogar Böses. Wir suchten zusammen nach einer Lösung, damit sie das nächste Mal anders reagieren kann. Ich hoffe, das nächste Mal wird sie reden und ihre Freunde fragen, ob irgendjemand den Mann kennt, der da hinter ihnen her läuft, anstatt sich in eine Panik hineinzusteigern…

 

Auch wir haben unseren Kindern gesagt, dass sie nie mit einem Fremden mitgehen dürfen und wie sie sich verhalten sollen, wenn jemand sie mal einladen würde mitzufahren. Ich war der Meinung, dass wir das nicht angst machend rüberbrachten und doch hat sich da eine Angst in unserer Tochter festgesetzt. Sie will weder ganz alleine in die Schule laufen, noch schnell in den Dorfladen Brot holen gehen, wenn sie keine Begleitung hat. Unser jüngerer Sohn hingegen, hat da überhaupt keine Skrupel. Der flitzt selbständig im halben Dorf herum und verschwendet keinen Gedanken an Leute mit bösen Absichten.

 

Mir zeigte dieses Erlebnis einmal mehr, dass Angst ein schlechter Ratgeber ist und dass wir Eltern unseren Kindern nicht unnötig Angst einflössen sollen. Vielmehr geht es darum sie zu mutigen Kindern werden zu lassen, die mit Selbstvertrauen das Leben meistern. Damit das möglich wird, muss ich bereit sein, meine eigenen Ängste in den Hintergrund zu stellen und ihnen zutrauen Situationen bewältigen zu können. Dort wo sie Unterstützung brauchen, soll ich sie ihnen geben. Doch das heisst nicht, ihnen alles Schwierige abzunehmen, sondern mit ihnen Hand in Hand durch das Schwierige hindurchzugehen und ihnen die Erfahrung ermöglichen, dass sie es schaffen können!

 

 

*Name geändert


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