Ich bin ein Boot

"Ich bin ein Ruderboot". Ich befinde mich an einem Steg unter einer Trauerweide oder unterwegs auf dem See mit einer kleinen Gruppe von Leuten. Mit mir kann man Tagesausflüge machen oder auch einfach am Steg rein sitzen und ein Picknick geniessen. Wenn die Sturmwarnung losgeht, dann rudere ich schnell an Land. Bei mir muss man rudern, das braucht Stärke. Wenn man mir die Ruder wegnimmt, dann bin ich ganz schön aufgeschmissen und manövrierunfähig...

"Auf jeden Schiff, ob’s dampft, ob’s segelt, gibt’s einen der die Sache regelt."

Seefahrerspruch


Während meiner Ausbildung beim Institut für christliche Lebens- und Eheberatung (ICL), habe ich das wertvolle Instrument der Projektionen kennengelernt. Kurz erklärt; der Gesprächspartner kann sich vorstellen, was für ein Haus, ein Turm, eine Türe oder eben ein Boot er wäre. Er redet dann über das Boot und dessen Stärken, Schwächen, Eigenschaften und macht in einem zweiten Schritt den Bezug zu sich selbst und seinem Leben. Die Parallelen zur eigenen Persönlichkeit sind verblüffend und sehr interessant. Es ermöglicht jemandem sich besser kennen zulernen und zu verstehen, da er über etwas und nicht über sich redet. Und trotzdem ist er ganz bei sich. 

 

Hochspannend finde ich auch, wenn der Ehepartner die Projektion des Bootes macht und man dann schaut, wie sich die beiden Boote begegnen können und wo sie Berührungspunkte haben. So war ich überhaupt nicht überrascht, als mein Mann mir sein Boot präsentierte:"Ich bin ein River Rafting Boot auf einem Wildwasserfluss". Ich überlasse es gerne eurer Fantasie, wie verschieden unsere zwei Boote sind. Mein Mann läuft zur Höchstform auf, sobald es wild und wellig wird. Da schmeisst er sich voller Enthusiasmus rein und nimmt jede Herausforderung mit Freuden an. Ich komme ins Rudern beim kleinsten Anzeichen einer zu grossen Welle. Anfangs unserer Ehe habe ich öfters mal versucht, ihm mit meiner Nussschale auf das Wildwasser zu folgen. Das gab regelmässig ein Dilemma mit desaströsen Ausmassen. Lange bevor wir die Projektion "Ich bin ein Boot" kannten, wurde mir bewusst, dass ich ihn alleine oder mit seinen Freunden ziehen lassen muss, wenn er sich in die Fluten stürzt. Der eine oder andere denkt jetzt vielleicht:"Die beiden passen ja aber so was von nicht zusammen!" Aber glaubt mir; nach all den Jahren kann ich bestätigen: Wir passen super zusammen, denn wir ergänzen uns. Am Ende eines Abenteuers gleitet das River Rafting Boot in den See und begegnet dem Ruderboot. Dort erholen sie sich gemeinsam und erzählen einander von ihren Erlebnissen. Das Boot kann inzwischen sogar in die wellige Strömung rudern, dorthin wo der Fluss in den See mündet, ohne gleich umzukippen! 

 

Ich habe eigentlich schon länger nicht mehr an die Boote gedacht, bis vor zwei Tagen. Da fragte mein Mann unseren Sohn plötzlich aus heiterem Himmel:"Wenn du ein Boot sein könntest, was wärst du dann für eines?" dieser antwortete wie aus der Kanone geschossen:"Ein Containerschiff!" Mir blieb doch glatt die Spucke weg! Als wir fragten warum, dann sagte er bloss:"Einfach, weil es halt gross ist und einen Kran hat, wo man grosse Container bewegen kann. Und weil es übers Meer fährt." Dann zog er los, um in der Mittagspause ein Containerschiff zu zeichnen...

Mir fiel es plötzlich wie Schuppen von den Augen! Gerade letztes Wochenende habe ich mich wieder gefragt, warum ich manchmal meinen Sohn so schlecht verstehe und warum wir öfter aneinander geraten. Er ist ein CONTAINERSCHIFF! Ein solches Schiff fährt stur auf Spur, nämlich die Route die es eingeplant hat. Wenn es einen Kurswechseln vornehmen muss, dann dauert das ewig und es hat einen Bremsweg von mindesten 6 Kilometern (hat Google mir soeben mitgeteilt!). Unser Sohn, kann mit kurzfristigen Änderungen im Programm schlecht umgehen. Wenn wir es die letzten 6 Jahre seines Lebens doch SO gemacht haben, dann sollen wir seiner Meinung nach, gefälligst nicht von einer Sekunde auf die andere etwas anders machen! Wenn er im Winter gewohnt ist, dass die Ärmel seines Pullis IMMER in den Handschuhen verstaut sind, dann MUSS das einfach so sein und alles Argumentieren nutzt in dem Moment nichts. Er kann seine Meinung oder seinen Kurs ändern, aber nur wenn es für ihn Sinn macht und man es ihm schon früh genug ankündigt. 

Das Containerschiff ist aber auch unglaublich widerstandsfähig und ausdauernd. Es ist gebaut, um tonnenschwere Lasten zu transportieren und um einen Sturm auszuhalten. Google hat mir gesagt, dass sich diese langen Schiffe, das längste ist 400 Meter lang, im Sturm bis zu einem Meter dehnen können müssen, um nicht auseinanderzurechen. Also dehnbar unter starker Belastung!

 

Genau das ist unser Sohnemann! Er ist stark, wenn er etwas will, dann bleibt er dran auch wenn es schwer ist. Er gibt nicht so schnell auf und misst gerne seine Kräfte mit einem Sturm. Es gibt bestimmt noch mehr Parallelen, aber diese beiden sind mir so richtig bewusst geworden. Wenn dann eben seine "Ruderboot-Mamma" ihn zu Hafen zurück schleifen will, weil in ihren Augen Gefahr droht, ja dann wird sie eben manchmal einfach übergangen. Was heisst das jetzt für mich als Mutter? Auch ihn muss ich seinen Kurs fahren lassen und darf seine Andersartigkeit nicht als Bedrohung sehen, sondern als Stärke, die er auf einem anderen Gebiet nutzen kann und wird.

Ich kann ihm darin so gut es geht entgegenkommen. Zum Beispiel fiel mir in letzter Zeit auf, dass er sich nicht lange still halten kann wenn er auf meinem Schoss sitzt. Das Ruderboot in mir möchte eine vertraute, bedeutsame Zeit zu Zweit, ruhig schaukelnd am Steg. Er will auch Zeit mit mir, aber indem wir etwas zusammen machen - Container rumschieben eben! Das heisst für mich; mit Legos etwas bauen, ein Spiel spielen, ein Projekt anreissen! 

Im Alltag ist diese Andersartigkeit oft so nervenaufreibend und ich möchte ihn am liebsten so zurechtbiegen, dass ich es unter Kontrolle habe! Ich habe in letzter Zeit manchmal sogar das Gefühl bekommen,  dass mein eigener Sohn etwas gegen mich hat, weil er sich einfach nicht nach Schema X (Ruderbootschema) behandeln lässt. Wie befreiend zu erkennen, dass er absolut nichts gegen mich hat, sondern anders tickt! Bei ihm läuft das alles unbewusst, nur ich kann jetzt mit dieser Projektion arbeiten und sie in meinem Erziehungsalltag umsetzen. Und wenn mir das gelingt, dann ist es möglich Beziehung zu leben!

Es ist wie eine Verheissung über dem Leben unseres Sohnes; in ihm steckt das Potential grosse Dinge zu bewegen und hohen Belastungen stand zuhalten - mit diesem Wissen habe ich nicht die Erlaubnis ihn klein zu halten, nur um MICH gut zu fühlen oder meinen Willen durchzusetzen. Als Mutter habe ich viel mehr die Aufgabe, ihm den Rücken zu stärken, damit er sein Potential voll entfalten und mit Mut und Zuversicht auf die Weltmeere hinaus fahren kann.

 

Unsere ältere Tochter konnte die Frage nach dem Boot auch mühelos beantworten:"Ich bin ein Kreuzfahrtschiff!" Diejenigen die sie kennen, können die Parallelen dazu bestimmt mühelos machen.

Allen anderen gebe ich für die kommende Woche folgende Frage mit auf den Weg." Was bist du für ein Boot?" Viel Spass und bei Fragen stehe ich gerne zur Verfügung.


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Kommentare: 2
  • #1

    Nicole (Sonntag, 22 Januar 2017 17:33)

    Wow, so intressant! Danke für dä toll Gedankeastoss!!
    Grüessli Nicole

  • #2

    Andrea E. (Donnerstag, 26 Januar 2017 09:15)

    Liebe Andrea, super Input! Sehe viele Parallelen zu unserer Familie. Werde mich mit dieser Frage, welches Boot ich bin, gerne auseinandersetzen...
    Freue mich, auch Deine anderen Beiträge zu lesen. Wurde von meiner Schwester (Deine Nachbarin) auf Deinen Blog aufmerksam gemacht ;-)