Vergänglichkeit

Vergänglichkeit – ein Wort, das die meisten nicht so gerne hören, denn es hat mit sterben, vergehen und nicht mehr da sein zu tun. Ich stehe in der Blüte meines Lebens, werde aber durch meinen Beruf fast täglich an die Tatsache erinnert, dass wir Menschen vergänglich sind und dass nichts ewig währt auf dieser Erde. Ich glaube es liegt in der Natur des Menschen, dass er an schönen Dingen festhalten möchte. Schöne Momente sollten niemals zu Ende gehen. Menschen die man liebt möchte man niemals loslassen und Gegenstände die uns gefallen möchten wir besitzen und nahe bei uns haben. 

"Was gut gepflanzt ist,wird nicht ausgerissen. Was treu bewahrt wird, geht nicht verloren...


Die Leute, welche ich während meiner Arbeit bei der SPITEX besuche, sind fast alle alt und stehen im letzten Abschnitt ihres Lebens. Sie sind in verschiedenen Stadien des «Zerfalls» und je nach dem auch auf Hilfe angewiesen. Viele dieser Leute erzählen mir bei meinen Besuchen aus ihren Leben, Manchmal geht es nicht zwei Minuten und obwohl ich sie unter Umständen das erste Mal sehe, schütten sie mir ihr Herz aus oder teilen ihre Lebensgeschichte mit mir. Da ist von harten Schicksalen die Rede, wie beim einen Mann der mit sieben Jahren als sogenanntes Verdingkind weggeben wurde, damit er bei einem Bauern gegen Kost und Logis arbeitete. Als dieser 90-jährige Senior mir erzählte, dass seine Mutter nach der Geburt des achten Kindes starb, brach er in Tränen aus. Da ist die Frau, die nicht bei ihrer Mutter aufwachsen konnte, weil diese durch eine Flucht im Krieg psychischen Schaden genommen hat. Oder die Dame, die ihren schwer erkrankten Sohn mit vier Jahren verlor und mit anschauen musste, wie ihr stolzer Mann sich während der Beerdigung an den kleinen Sarg festklammerte und nicht mehr loslassen wollte. Ich könnte Seiten über Seiten, ja ein ganzes Buch füllen, über diese Schicksale und die Menschen die sie erlebten. Diese Generation von alten Menschen weiss noch was Hunger und Kälte ist. Sie wissen wie es ist zu arbeiten und doch hungrig ins Bett zu gehen. Sie erinnern sich noch an den Krieg oder die Zeit danach und wurden alle direkt oder indirekt geprägt dadurch. Es gibt die Kämpfer unter ihnen, die trotz schlimmen Schicksalsschlägen, nie den Mut verloren haben und mit erhobenem Kopf durchs Leben gingen und dann gibt es die, die an ihren Erlebnissen zerbrochen sind und bitter wurden. All die Geschichten bewahre ich in meinem Innern auf wie schöne Steine in einem Glas. Sie sind mir kostbar und ich stelle mir immer wieder die Frage; «Wer wird sich an sie erinnern?» Wenn diese Menschen sterben, werden auch ihre Erinnerungen vergehen und mit ihnen vergraben werden. Wer wird sich noch daran erinnern, dass der 90-jährige Senior den Tod seiner Mutter bis heute nicht verarbeitet hat? Oder wer wird wissen was die Frau, die ihr Kind begrub, dazu bewogen hatte, nie die Hoffnung zu verlieren und auch im hohen Alter noch fröhlich und interessiert zu sein? 

Der Auslöser zu diesem Blog Eintrag, war der Besuch des ältesten Prager Friedhofs. Mein Mann und ich gönnen uns jedes Jahr ein paar Ehetage, ohne Kinder und ohne Stress. Dieses Jahr zog es uns nach Prag und mehr aus Zufall liefen wir an diesem riesigen Friedhof vorbei, der durch den Zaun hindurch aussah, wie die ideale Kulisse zu einem der grusligsten Horrorfilme aller Zeiten: überwucherte Gräber, alte knorrige Bäume, umgestürzte Grabmäler und verschobene Grabplatten. 1680 wurde der Olšany Friedhof wegen einer herrschenden Seuche angelegt und war seither in Betrieb. Er beherbergt über 65'000 Grabstätten und ist in verschiedene Sektionen unterteilt, darunter gibt es auch jüdische, muslimische oder militärische Gräber. Der Teil, dem wir begegneten, schien einer der älteren zu sein. Nur noch vereinzelt entdeckte man Grabsteine mit aktuellen Daten und dies waren vor allem Familiengräber. Ansonsten stammten die meisten aus Ende 19.- Anfang 20. Jahrhundert, oft noch mit Fotos, viele auch auf Deutsch. Ich hätte stundenlang durch diesen verwunschenen Ort wandern und die Grabinschriften lesen können. Wer waren diese Leute? Wie haben sie gelebt, wie waren sie gestorben? Was passierte wohl der Familie, die alle in kurzer Folge, im Abstand von wenigen Wochen starben? Die mussten krank gewesen sein, dass zuerst der Vater, dann der kleine Junge und schlussendlich auch noch die Mutter gestorben ist. An solchen Orten geht die Fantasie jeweils fast durch mit mir und ich möchte an Ort und Stelle einen Roman schreiben, die Zeit zurückdrehen und diesen vergangenen Menschen, wieder Leben einhauchen. 

Kürzlich sagte mir eine alte Frau, die sich um das tragische Weltgeschehen sorgte: «Der Tod ist das einzig gerechte auf dieser Welt!» Er ereilt uns alle. Egal wie gut oder wie böse ein Mensch war, wie egoistisch oder selbstlos er gehandelt hat, vor seiner Endgültigkeit geht kann niemand entfliehen und das macht uns schlussendlich alle gleich.

Meine eigene Vergänglichkeit wurde mir vor ein paar Jahren bewusst, als unsere jüngste Tochter etwa ein Jahr alt war. Klar wusste ich im Kopf, dass auch ich nur ein Leben zur Verfügung habe und dass die Zeit irgendwann aufgebraucht ist. Aber tief in mir drin, wollte ich diese Tatsache nicht wahrhaben, denn wenn man jung ist glaubt man irgendwie, dass es für immer so sein würde. Als ich mit 20 sagte, dass ich einmal heiraten und Kinder haben wolle, dann lag das alles noch als wunderbare Möglichkeit vor mir. Ich hatte das Gefühl, dass ich alles machen kann was ich will und mir alles offensteht. Dann vergehen die Jahre, man heiratet und hat Kinder. Und dann kam der Zeitpunkt, an dem mich die Vergänglichkeit kalt erwischte und in eine kleine Krise stürzte. Was ich mit 20 einmal gesagt hatte, habe ich nun mit 32 erreicht. Ein Teil meiner Bestimmung als Frau, nämlich schwanger werden und Kinder kriegen war vorbei und ein Teil von mir starb mit dieser Einsicht. Ein Abschnitt war vorüber und ich empfand ihn als schmerzlichen Verlust. Plötzlich bekam ich eine Heidenangst, dass ich mein Leben nicht sinnvoll nutzen würde, dass ich am Ende meines Lebens sagen müsste, ich hätte nicht alles herausgeholt. Mir wurde bewusst, dass ich nicht einfach die «Repeat» Taste drücken kann und es Dinge gibt die für immer vorbei und abgeschlossen sind.

Vergänglichkeit!

Diese zu akzeptieren und mit ihr versöhnt zu leben, scheint für mich den Unterschied zu machen, ob man im Alter zufrieden und dankbar stirbt oder ob man sich voller Bitterkeit ans Leben klammert. Ich sehe beides in meinem Beruf und im Begleiten von Menschen. Ich will ihre Geschichten im Herzen bewahren und sie dadurch ein bisschen unsterblich machen. Ich will meinen Kindern Geschichten erzählen von mir, von früher und so ihre Erinnerung an mich wachhalten.

Im Bewusstsein, dass ich vergänglich bin, will ich mein Leben in vollen Zügen leben und zwar nicht aus Angst davor etwas zu versäumen, allem hinterherjagen, sondern im Vertrauen darauf, dass Gott mich durch mein Leben führt, ein Ja haben zu dem was mein Leben ausmacht. Dieselbe Frau, die ich oben erwähnte, sagte: «Das letzte Hemd hat keine Taschen.» und das erinnert mich daran, dass ich viel lieber Erinnerungen und Erlebnisse mit Menschen sammeln soll, als materielle Schätze anzuhäufen. Denn Erinnerungen kann ich sammeln, wie kostbare Steine in einem Glas und dann kann ich sie weiterverschenken, dass sich auch noch andere daran freuen können; wer weiss vielleicht sogar über meinen Tod hinaus!

 

Wer sein Gedächtnis seinen Söhnen und Enkeln hinterlässt, hört nicht auf."

Laotse


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Kommentare: 2
  • #1

    Dorothea (Montag, 11 September 2017 20:29)

    Liebe Andrea,
    heute hat mich Deine Blog Überschrift sehr getroffen und gleich zum Lesen veranlasst. Diese Woche wurde ich vom überraschenden Tod eines Bekannten und dem Schmerz der minderjährigen Kinder und Ehefrau fast überwältigt. Und die Frage steht was bleibt. . Ja es bleiben Worte die wir uns mitgeteilt haben, Erlebnisse, aus unserem Leben. Mein Bekannter hat seinen Kindern immer wieder mitgeteilt wie stolz er auf Sie ist, wie wichtig sie Ihm sind. Diese Worte sind jetzt sehr kostbar.
    Liebe Grüße Dorothea

  • #2

    Mammandrea (Dienstag, 12 September 2017 21:28)

    Liebe Dorothea

    Danke für deinen Kommentar. Ja, so ein Verlust ist schwer zu verstehen und zu verarbeiten. Ich wünsche dir viel Weisheit im Umgang und im Trost spenden. Genau in solchen Momenten ist es besonders schwer der Endgültigkeit des Todes in die Augen zu sehen. Viel Kraft dir und deinen Bekannten! Herzlichst Mammandrea