Die Gratwanderung

Ich fühle mich wie ein Bär, der nach seinem Winterschlaf zögerlich, dem Frühling noch nicht recht trauend, aus seiner Höhle kriecht. Das Licht scheint zu hell und die Sinnes-eindrücke sind überwältigend. Genauso wie der Bär instinktiv weiss, dass es Zeit ist aktiv zu werden, weiss auch ich; es ist Zeit aus der Corona-Starre zu kommen und mich dem Leben wieder zu stellen. Aber kann ich dem Leben da draussen noch trauen? Der erste Punkt auf der Agenda eines Bären, der aus dem Winterschlaf auftaucht, ist die Futtersuche er hat einen Bärenhunger!

«Sehnsucht ist der schmale Pfad der Hoffnung auf der Gratwanderung zwischen Verzweiflung und Illusion.»

Debora Sommer


Photo by Felipe Giacometti on Unsplash  

 

 

Es sieht ganz so aus, als ob es uns Menschen auch so geht; wir haben einen Hunger nach Leben, so wie wir es vor der Corona Zeit kannten. Dieser Hunger zeigt sich auf verschiedenste Weise: Wir treffen wieder Lieblingsmenschen und saugen die wohltuende, manchmal auch heilende Gemeinschaft mit Freunden auf. Wir wissen gewisse Dinge, wie einen Spaziergang oder ein Treffen unter Freunden, vielmehr zu schätzen und sind dankbar. Der Hunger nach Leben macht manchmal aber auch egoistisch. Vielleicht trauen die Leute dem Leben da draussen noch nicht, haben Angst vor Ansteckung oder dass sie zu früh aus der Höhle gekrochen sind? Sie taxieren einem mit bösen Blicken, wenn man zu nahe aufschliesst an der Kasse oder sie reagieren ungeduldig, wenn sie vor einem Geschäft warten müssen. In ihrem Drang nach Freiheit, missachten sie Verbote und gehen trotzdem in den Bergen auf einem Feld campieren, sehr zum Missfallen der Kühe und des Bauern. Möbelhäuser machen einen riesigen Umsatz, weil die Leute ihre Wohnung neu eirichten. Wahrscheinlich haben sie sich während des Lockdowns und Homeoffices an ihrer Inneneinrichtung sattgesehen und es musste Veränderung in die eigenen vier Wände rein.

 

Und bei mir? Ich kam mir tatsächlich vor wie in einem unfreiwilligen Winterschlaf. Ich hatte absolut kein Bedürfnis mich auszuruhen, denn wir kamen ja gerade erst aus Thailand zurück und hatten uns zwei Monate lang erholt. Anfang März war ich voller Tatendrang und mir standen einige schöne Projekte bevor. Stattdessen schickte man mich in einen erzwungenen Winterschlaf. In dieser Zeit stellte ich nicht selten eine innerliche Unzufriedenheit bei mir fest, ich konnte dieser Unzufriedenheit jedoch keinen Namen geben. Es war ein unbestimmtes Gefühl, das mich unruhig machte – es war Sehnsucht!

 

Sehnsucht – ein Thema mit dem ich mich im Moment stark beschäftige. Ich habe lange Zeit gemeint, dass es nicht gut ist Sehnsucht zu haben, denn man sehnt sich da ja immer etwas herbei, das man nicht hat oder auch nie erreichen wird. Ich war eher der Meinung, dass dieses Ur-Gefühl hinderlich ist, um im Leben vorwärtszukommen. Stattdessen stelle ich fest, dass Sehnsucht eine unglaublich positive Lebenskraft besitzt, wenn ich damit umzugehen weiss.

 

In der Bibel steht, dass Gott uns die Ewigkeit ins Herz gelegt hat (Prediger 3,6) und damit auch eine Sehnsucht nach dem Ewigen, nach mehr, als dass das blosse Auge sehen und diese Welt bieten kann. Diese Sehnsucht ist oft diffus und unbestimmt in uns zu spüren und wir Menschen neigen dazu, das schmerzliche sehnsuchtsvolle Loch mit anderen Dingen füllen zu wollen. Mehr Geld, mehr Besitz, mehr Konsum, mehr Essen, mehr Vergnügen, mehr Anerkennung usw.

 

Debora Sommer schreibt in ihrem Buch «Im Herzen ist Raum für mehr»:

 

«Sehnsucht ist der schmale Pfad der Hoffnung auf der Gratwanderung zwischen Verzweiflung und Illusion.»

 

Dieses Bild zeigt  die Dynamik, die Sehnsucht in meinem Herzen annehmen kann. Ich kann an ihr verzweifeln, da ich sie nie stillen kann oder ich kann mir eine Illusion aufbauen und nicht mehr in der Realität leben. Es gibt da aber eben auch noch diesen schmalen Grat und der heisst «Hoffnung». Sehnsucht kann Hoffnung spenden und wenn ich bereit bin meiner Sehnsucht in die Augen zu schauen, ihr einen Namen zu geben, kann ich sie nutzen, um sie positiv umzusetzen.

 

Meine Unzufriedenheit der letzten Monate war nur ein Symptom für die Sehnsucht in meinem Herzen. Seit einem Jahr gibt es einen Bereich in meinem Leben, der brach liegt. Im wahrsten Sinne des Wortes herrschte in diesem Bereich schon lange vor der Corona Zeit Winter. Alles war steinhart zugefroren und karg – kein Lebenszeichen ABER eine grosse Sehnsucht. Eine Sehnsucht nach Frühling, nach ersten zarten Blättern an den Bäumen, nach Blütenknospen, die den harten Boden durchstossen. Nach Tauwetter, Regen, Sonne und Wachstum.

 

Ich sah lange nur die Unzufriedenheit und versuchte sie, zumindest für kurze Zeit, zu überdecken. Erst die Bereitschaft hinter meine Unzufriedenheit zu blicken, gab mir die Fähigkeit meine Sehnsucht zu erkennen und da ich nicht an ihr verzweifeln wollte, brachte ich sie zu Gott. Wenn er derjenige ist, der die Sehnsucht in die Herzen der Menschen legte, dann ist auch er der, der ihr begegnen und sie stillen kann.

Und er hat mich nicht enttäuscht! In meinem Herzen herrscht Tauwetter; der Frühling kommt und die innere Starre, die mich so lange blockiert hat, löste sich auf, um Neues in Bewegung zu setzen.

Wenn das passiert, dann treibt mich die Sehnsucht positiv an und sorgt für Leben und Wachstum und ich muss weder an ihr verzweifeln noch ihr nachhetzen.

 

In der Bibel steht in den Sprüchen 4.23: «Vor allem aber behüte dein Herz, denn dein Herz beeinflusst dein ganzes Leben.» Wenn man es vom Hebräischen übersetzt heisst es sogar: «Vor allem aber behüte dein Herz, denn aus ihm sprudelt die Quelle des Lebens.» Unser Herz ist die Quelle des Lebens im wahrsten, physischen Sinne des Wortes, aber auch im geistlich, seelischen Sinne. In ihm ist, und aus ihm kommt das Leben und deshalb ist es so wichtig, dass wir hinhören, wenn es uns etwas sagen will.

 

Wo spürst du in deinem Leben «Sehnsuchtsymptome» (Debora Sommer) die sich Gehör verschaffen wollen? Bist du in gewissen Bereichen auch unzufrieden, oder unglücklich? Bist du wütend, verzweifelt oder desillusioniert und sehnst dich nach Frühling in deinem Leben? Dann ist es vielleicht Zeit auf dein Herz zu hören und den Mut aufzubringen deiner Sehnsucht in die Augen zu blicken, damit die Quelle des Lebens wieder ungehindert fliessen kann. Es lohnt sich!

 

 


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Kommentare: 2
  • #1

    Evelin (Freitag, 05 Juni 2020 22:17)

    Danke, sister, für diesen tiefsinnigen und ermutigenden Beitrag!

  • #2

    Debora (Samstag, 06 Juni 2020 22:54)

    Herzlichen Dank für deine berührenden Sehnsuchtsgedanken und den Hinweis auf mein Buch :-). Das bedeutet mir sehr viel! Dir von Herzen alles Liebe! Herzliche Grüsse, Debora