Ist "gut" - gut genug?

Letzte Woche bei der Dentalhygienikerin: „Benutzen sie Zahnseide??“… Diese Frage ist einer der Gründe, weshalb ich nicht gerne zur alljährlichen „Rausputzete“  gehe. Wenn ich nämlich die Wahrheit sage, dann muss ich mir eine Predigt anhören, weshalb und warum ich UNBEDINGT täglich die Zahnseide zur Hand nehmen sollte. Ich fühle mich dann jeweils wie ein kleines Mädchen, das vom Lehrer getadelt wird. Nicht ein schönes Gefühl, wenn man schon auf der „falschen Seite der 40“ steht….

"LAss das Perfekte nicht zum Feind des Guten werden."


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Wenn ich die Dentalhygienikerin jedoch anlüge, dann habe ich ein schlechtes Gewissen und sie würde es ja eh rausfinden, wenn sie mir genau in den Mund sieht. So eignete ich mir vor ein paar Jahren eine List an, mit der ich zumindest mich selbst auf den Arm nehmen konnte: Sobald ich, etwa zehn Tage zuvor, die Terminerinnerung vom Zahnarzt bekam, begann ich wie eine wilde die Zahnseide zu schlenkern. Dann musste ich am Termin nämlich nicht lügen und konnte die Frage mit „Ja“ beantworten (muss ja niemand wissen, dass ich die restlichen 355 Tage nichts für meine Zahnzwischenräume tue).

 

 

Heute aber, traf ich auf eine „babuschka-artige“ Matrone von einer Dentalhygienikerin. Eine erfahrene, slavische, nicht eben zimperliche Perle ihrer Zunft! Und als sie die allesentscheidende Frage stellte, war ich bereits mit offenem Mund und verkeiltem Absaugschlauch auf dem Behandlungsstuhl. „Frau Wenk; benutzen sie regelmässig Zahnseide??“ (Man stelle sich ihren osteuropäischen Akzent und mein Kopfschütteln vor) Jetzt hatte ich verloren und das kleine verschüchterte Mädchen in mir stellte sich auf eine wohlgemeinte Strafpredigt ein, die ich abzunicken hatte.

 

„Das kann ich NICHT akzeptieren!“ Sagte mir die Gute unter ihrer Maske hervor. Das Mädchen in mir schrumpfte zusammen und die Frau in mir war empört – was geht das die überhaupt an??? Also wirklich!

 

Was sie dann aber sagte, wich so sehr vom gewohnten Muster ab, dass ich lachen musste - was den Absaugschlauch dazu veranlasste, sich an der Innenseite meiner Backe festzusaugen. Natürlich sagt sie mir, dass sie von mir erwartet, dass ich Zahnseide benutze, aber dann sagt sie in einer Tonlage, die eines Diktators würdig gewesen wäre: „Ich VERBIETE ihnen jeden Tag die Zahnseide zu benutzen!“ Sie erklärt mir dann, dass die Menschen nur im Film vom Zahnarzt nach Hause gehen und dann plötzlich zuverlässig jeden Tag die Zahnseide hervornehmen würden. Das sei weder realistisch noch alltagstauglich und deshalb möchte sie, dass ich die nächsten drei Monate einmal pro Woche meine Zwischenräume reinige, denn das traue sie mir zu. Wahrscheinlich macht sie diese Einstellung zu einem Kuriosum ihrer Berufsgattung, aber mir wurde sie dadurch sofort sympathisch.

 

 

Während ich auf dem Behandlungsstuhl ausharrte und die Prozedur über mich ergehen liess, hatte ich Zeit über das Leben nachzudenken und mir wurde klar, wie treffend die Aussage der Babuschka auch in anderen Bereichen des Lebens ist.

 

 

Es gibt immer das Beste, die Ideallinie, die die Fahrt des Lebens uns vorgibt. Stets kann ich etwas gut machen, aber es ginge noch besser. Immer wieder kann ich ein Ziel erreichen, nur um festzustellen, dass das nächste schon auf mich wartet. Gerade erst diese Woche las ich in einem Buch den Spruch: „Lass das Perfekte nicht zum Feind des Guten werden.“

Diese Dentalhygienikerin hat in ihrer bald 30 jährigen Tätigkeit erkannt: Perfekt wäre, wenn alle jeden Tag die Zahnseide benutzen würden. Aber realistisch, dem Leben angepasst ist es für wahrscheinlich 50% der Leute, ein- zweimal wöchentlich- und das ist immer noch  besser als nie.

 

 

Ich begegne immer wieder Menschen, die den Anspruch an sich haben alles perfekt machen zu wollen, um im Endeffekt perfekt zu sein. Das sind oft Menschen, welche an den Aufgaben, die und das Leben stellt, scheitern. Einem Ideal zu folgen und zu versuchen es zu erreichen, gleicht einem nie enden wollenden Wettkampf um die Zeit und das Leben selbst. Dieser Wettlauf laugt aus und entmutigt, weil das was man erreicht ja doch nie reicht.

 

 

Wo in meinem Leben gilt es die Idealvorstellung der Realität anzupassen? Wo quält mich dieser Überanspruch so sehr, dass ich wie gelähmt bin und vor Angst mein Ideal nicht zu erreichen, überhaupt nichts mehr tue - zum Stillstand komme?

 

Ein Punkt in meinem Leben, in dem ich einen solchen „Perfektheits-Anspruch“ habe, ist wenn ich Besuch einlade. Lange hatte ich den inneren Stress, dass alles perfekt sein muss; das Essen die Deko, die Stimmung und so weiter. Dieser Stress und die Angst es nicht genau so zu erreichen, haben mir manchmal die ganze Freude genommen und mich als Gastgeberin absorbiert, so dass ich nicht mehr richtig zugänglich war. Zu erkennen, dass „gut“ gut genug ist und dass ich ebenso ermutigende Gemeinschaft haben kann mit einem Topf Spaghetti, ohne viel Schnickschnack auf dem Tisch - das war heilsam!

 

 

Ganz am Anfang der Bibel wird beschrieben, wie Gott die Erde schuf. Nach jedem vollendeten  Tag, als Gott sein Werk betrachtete, steht geschrieben: „Und Gott sah, dass es gut war.“ Gut – nicht perfekt! Wenn einer den Anspruch für sich erheben könnte, perfekt zu sein und Perfektes zu schaffen, dann ist es Gott; der Schöpfer dieser Welt, der Anfang und das Ende!

Wenn aber selbst für IHN "gut" gut genug ist, darf es denn nicht vielmehr für mich auch so sein?

Im Leben vieler Menschen gibt es entweder "perfekt" oder "schlecht". Dazwischen gibt es in ihrer Wertung nichts.

Ich habe über die Jahre gelernt, dass dort in der Mitte zwischen dem Ideal und seiner Antithese das Wort "gut" stehen darf und in diesen drei Worten finde ich immer wieder Zufriedenheit und Akzeptanz für mich, das Leben und meine Mitmenschen.

 


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Kommentare: 1
  • #1

    Barbara Mürner (Dienstag, 20 Oktober 2020 11:29)

    Liebi Andrea.....wie immer so guet gschriebe u voll is schwarze troffe mit allem....Danke für dini Wort