Von Vorbildern & Schwächen

Darf ich vorstellen: So sieht der Kleiderstuhl meiner 7-jährigen Tochter aus.

Ich würde hier ja gerne schreiben; so sah er letzten Mittwoch aus. Die Realität zeigt aber; so sieht er jeden Tag aus, ausgenommen in den kurzen Stunden zwischen einer verordneten Aufräumsession und dem nächsten Morgen.

Ich muss das Foto nur anschauen und der Anblick bringt mein mütterliches Blut in Wallung! Gefühlte hunderttausend Mal habe ich sie bereits dazu aufgefordert, mehr Ordnung zu halten. Ich habe ein Schrank-öffnen-Verbot und ein

nur-einmal-im-Tag-umziehen-Verbot verhängt – ohne sichtbaren Erfolg, wie das Bild zeigt. Der Stuhl füllt sich immer wieder zuverlässig und schneller als man sich vorstellen kann

Vorgestern am Abend war es dann mal wieder soweit. Ich, schon leicht genervt, werfe einen Blick auf besagten Stuhl und der Anblick ist der Tropfen, der das Fass zum überlaufen bringt...

"Wir lehren nicht bloss durch Worte:                     Wir lehren auch weit Eindringlicher durch unser Beispiel."

Johann Gottlieb Fichte


Selbst die geduldigste Mutter kommt irgendwann an ihre Grenzen, und ich zähle mich nicht zu der geduldigsten Sorte! Es folgt ein Vortrag in hohem Frequenzton über Ordnung, Schlampigkeit, nur eine Garnitur Kleidung in Gebrauch haben, gespickt mit ganz vielen "hab ich dir nicht schon tausend Mal gesagt..." Sätzen.

Meine Tochter, die Ruhe in Person,  wühlt in ihrem Haufen und sucht einen Pulli. Dabei hört sie mir mit ihrer "Ohren-auf-Durchzug-Haltung" zu, und nickt alles was ich sage getreulich ab. Ich bekam das Gefühl an eine Wand zu reden und einen gratis Vorgeschmack auf die Teenager Zeit in ein paar Jahren. Während vollen 2 Minuten kommt sie nicht zu Wort, doch als mir dann endlich die Luft und die Argumente ausbleiben, schaut sie mich herausfordernd an und sagt: "Aber Mamma, dein Stuhl sieht ja auch so aus!“ 

Zack! Da ist sie, die gnadenlos gespiegelte Wahrheit! In meinem Inneren bricht ein Sturm der Gefühle aus. Ich will doch jetzt nicht die Wahrheit hören! Der Stolz sagt: „Es geht jetzt nicht um mich! Also wirklich, muss ich mir das von meiner Tochter bieten lassen?! Eine Frechheit!“ Die Vernunft sagt: „Wo sie recht hat, hat sie recht! Sei doch ehrlich zu dir selbst!“ Ich rette mich mit einem „Lenk nicht vom Thema ab!“ aus der misslichen Lage, und wir vertagen das Thema auf den nächsten Familienrat.

 

Als ich das nächste Mal ins Schlafzimmer ging musste ich dann doch innerlich lachen und über mich den Kopf schütteln. Da steht mein Stuhl wie ein Mahnmal an mich und meine mütterlichen Prinzipien! Sieht nicht wirklich viel besser aus, oder?  

Mir kommt das Zitat von Albert Einstein in den Sinn:

"Es gibt keine vernünftigere Erziehung, als Vorbild zu sein. Und wenn es nicht anders geht, ein abschreckendes Vorbild." 

Tja, im Fall meiner Kleiderordnung hat beides versagt, lieber Herr Einstein. Mein Stuhl ist weder vorbildlich, noch ist er ein abschreckendes Beispiel für meine Tochter. Er spiegelt lediglich den IST- Zustand wieder, den sie fröhlich und unverkrampft nachahmt. 

Es leuchtet ein, dass wir für unsere Kinder Vorbilder sind. Alle Eltern sitzen im selben Boot. Während es früher, ohne Kinder, noch egal war, dass mein Mann sich ein zweites Joghurt zum Abendessen gönnte, schreien heute sofort 3 Kinder: „Mama, wieso darf der Papa ein zweites Joghurt und wir nicht??“ Undenkbar eine solche Übertretung der eisernen „ein Joghurt“ Regel! Seit einigen Jahren kann das zweite Joghurt nur noch im Geheimen gegessen werden, wenn die Kinder im Bett sind…

 In so vielem sind wir bewusst oder unbewusst Vorbilder; wir putzen die Zähne, räumen auf, sind zuverlässig, fluchen nicht, beten mit unseren Kindern, bitten um Verzeihung wenn wir Fehler gemacht haben, zeigen und geben Liebe… die Liste ist endlos!

Wie sehr ich mich als Mutter auch bemühe, ich werde einfach nicht perfekt. Ich habe da meine ganz eigenen Ticks und Schwächen, die ich nicht loswerde, und die ich auch nicht vor meinen Kindern verstecken kann. Denn so wie ich sie kenne, kennen sie mich, und sie sind mir ein ehrlicher Spiegel. Da ist zum Beispiel die Tatsache, dass ich an gewissen Orten zum Chaos neige, wie in meinem Blog über meinen Schreibtisch auch schon beschrieben. Es fällt mir schwer in dieser Beziehung ein Vorbild zu sein. 

 

Was jetzt? Resignieren? Weiter im Machtkampf leben und meine Tochter zwingen zu lernen, was ich selber nicht mal kann? Mit welcher Autorität? Ihr seht ich stecke in einer Zwickmühle...

 

Was wäre nun der vorbildliche Umgang mit dieser Herausforderung? 

Es scheint mir, dass ich zwei Möglichkeiten habe: Entweder verantworte ich meinen Kleiderstuhl mit seinem Wühlhaufen und stehe dazu. Dann darf ich aber nicht von meiner Tochter verlangen Ordnung zu halten. ODER ich entscheide mich für den unbequemeren Weg und lasse mich auf einen Prozess ein, in dem auch ich mich verändern darf. Wenn ich meiner Tochter zutraue, dass sie lernen kann Ordnung zu halten, dann sollte ich mich doch auch bei der Nase nehmen können. Es scheint mir, dass kein Weg daran vorbeiführt: Es ist nicht einfach das Problem meiner Tochter; es ist unseres! Ich kann nicht fordern, was ich selbst nicht bereit bin zu geben. 

"Gehe ich vor dir, dann weiss ich nicht, ob ich dich auf den richtigen Weg bringe. Gehst du vor mir, dann weiss ich nicht, ob du mich auf den richtigen Weg bringst. Gehe ich neben dir, werden wir gemeinsam den Richtigen Weg finden."

Afrikanisches Sprichwort

Dann mache ich mich auf, neben meiner Tochter, und vertaue darauf, dass wir den richtigen Weg zur gemeinsamen Ordnung finden. Wenn nicht? Dann zeigen wir gemeinsam Grösse und stehen zu unserer Schwäche: Dem Wühlhaufen auf unserem Kleiderstuhl!


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Kommentare: 2
  • #1

    manu steini (Mittwoch, 24 Februar 2016 21:30)

    jesssssssssss and ameeeeeen!
    ihr schafft das! ich komm sonst regelmässig mal vorbei und helfe euch beim durch- und umwühlen;)

  • #2

    zara (Donnerstag, 03 März 2016 11:22)

    Bei deiner schaffen es die Kleider immerhin auf den Stuhl, bei meinen liegen die Kleider im ganzen Zimmer.:(