Fantasie versus Realität

Eigentlich wollte ich in meinen ersten Zeilen schreiben, dass ich dazu neige in einer Fantasiewelt zu leben. Wenn ich mich aber ganz ehrlich reflektiere, ist das nur die halbe Wahrheit. In meinem Leben bin ich immer wieder auf der Flucht und fühle mich verfolgt von der Realität, nicht bereit ihr in die Augen zu sehen. Damit mir das möglich wird, bediene ich mich vieler hilfreicher Strategien, wie zum Beispiel eben meiner Vorstellungskraft. Eine lebhafte Fantasie zu haben, das ist nichts Schlimmes, ich würde sogar sagen es ist eine Gabe. Wenn ich meine Kinder beobachte und sehe, was sie auf Grund ihrer Fantasie alles für Spiele und Welten erschaffen, dann sehe ich die positive Schöpfungskraft darin...

"Wenn die Fantasie realistisch wäre, dann wäre die Realität fantastisch! "

Autor unbekannt


Etwas das nur in meinen Gedanken und Gefühlen Form annimmt, zur Realität werden zu lassen und zu gestalten, das ist ein spannender kreativer Prozess. Die Fantasie des Menschen hat für mich ihren Ursprung bei Gott. Er muss die ultimativ – lebhafteste Fantasie haben, denn wie sonst hätte er all die einzigartigen Pflanzen, Tiere und Menschen erschaffen können? So gesehen, hat in Tat umgesetzte Fantasie etwas unglaublich Positives.

 

In meiner Fantasie kann ich mir die Welt und die Situationen so zurechtlegen, wie ich es will. Ich kann mir ganze Geschichten in meinen Kopf Kino ausdenken; mit Drama, Liebe und Happy End. Niemand ausser mir, beeinflusst den Ausgang der Geschichte. Ich liebe Romane die ein Happy End haben und schmelze innerlich, wenn auf der letzten Seite steht:

 

<Sie zog ihn an sich, um diesen Kuss richtig auszukosten. «Ich nehme an wir müssen beide die richtige Entscheidung treffen nicht wahr?» Ihre Blicke trafen sich, dann sagten sie beide wie aus einem Mund: «Ja!»> ENDE!

(Zitat aus « eine Frage der Liebe», Nora Roberts)

 

Ist das nicht schön??? Beide sagten JA! Seufz häschtäg feuchte Augen häschtäg Liebesschnulzen häschtäg Romantik

 

Während sich meine Tagträume beliebig von mir beeinflussen lassen, ist die Realität nicht so leicht veränderbar. Sie steht im Gegenteil manchmal als ziemlich unverrückbare, ungeschminkte Tatsache vor meinen Augen. Wie einfach ist es da jeweils, mich meinen inneren Helden und Heldinnen zuzuwenden oder mich mit einem Buch oder Hörbuch abzulenken. Und schon bin ich mitten drin in der Realitätsflucht…

In meiner Fantasie bin ich die viel bessere Mutter, Freundin und Ehefrau als im Alltag – ich bin einfach die perfekte Version meiner Selbst. Ich erlebe nicht nur Schönes, sondern auch echt Dramatisches! In allem Drama, ist es mir jedoch immer möglich richtig zu entscheiden, weise zu handeln und mein Leben für andere aufs Spiel zu setzten (ohne es zu verlieren, versteht sich!) Eben eine richtige Heldin des Alltags…

 

Im Grossen und Ganzen verabreiche ich mir im Alltag stets nur eine geringe, der Gesundheit bekömmliche Dosis «Tagtraum». Einfach so, damit gewisse Realitäten erträglicher werden, oder ich wieder mehr Energie habe im Hier und Jetzt zu leben. Es hilft mir abzuschalten, aufzutanken, mich gut zu fühlen.

Dann gibt es da aber auch die exzessiven Momente, in denen ich der Realität den Rücken kehre und mich kopfüber in meine Fantasiewelt stürze. So auch nachdem ich in den Herbstferien mit meinen Mädels nach Hause kam nach 10 Tagen Besuch bei meiner Schwester. Der männliche Teil unserer Familie, Vater und Sohn, war noch in Spanien auf einer Jugendfreizeit. Ich vermisste meinen Mann ganz fest und wusste, dass ich noch weitere 10 Tage durchhalten musste. Ich wollte mich eigentlich nur verkriechen und nicht wieder zu Hause ankommen, Kinderprogramm liefern, kochen, einkaufen, waschen und den ganzen Alltagstrott mit seiner Verantwortung übernehmen. Ich wünschte mir ein anderes Leben; spannend, abwechslungsreich, glamourös und abenteuerlich.

 

"Fantasie komm zurück! Die Realität war  gemein zu mir!"

Zitat, Autor unbekannt

In diesen Momenten kann ich äusserlich zwar anwesend sein, aber innerlich tauche ich ab. Wie ein trotziges Kind verweigere ich mich den Tatsachen und ignoriere was vor meiner Nase ist. Das Lesen, Tagträumen, Filme schauen wird dann zur Flucht. Es ist nicht mehr einfach Vergnügen oder Genuss – es wird zur Vermeidung. Ich vermeide damit das Nachdenken und das auf meine innere Stimme hören. Ich ignoriere die Stimme der Vernunft und die Gedanken, die mich ins Hier und Jetzt rufen wollen.

Wenn es auch nur ein einziges Mal etwas besser gemacht hätte, würde ich diese Realtätsflucht allen empfehlen. Nur leider ist dem nicht so und meine reale Welt wird mit jedem Schritt in die Fantasie unattraktiver.

Ich frage mich gerade, was mich eigentliche immer wieder rausholt aus diesen exzessiven Verweigerungsphasen? Wahrscheinlich ist es die Sehnsucht mein Leben aktiv zu gestalten. Klar kann ich meine Fantasien freier gestalten als mein Leben. Ich habe dort ja keine Verpflichtungen und auch keine Bindungen. Aber es sind eben nur Fantasien – sie werden nicht oder nur bedingt wahr in meinem Leben. Und in meinem echten Leben passiert erst recht nichts Spannendes, wenn ich nicht bereit bin aktiv zu gestalten. Gestalten kann ich nur, wenn ich wahrnehme und wahrnehmen kann ich nur durch hinschauen. So schaue ich früher oder später immer wieder hin; in meine Welt, meine Realität. Ich atme dann jeweils tief durch und entscheide mich für ein neues JA zum Roman meines Lebens, den ich zwar nicht alleine schreibe, aber den ich mitgestalten kann.

An meiner Magnetwand hängt ein «Codesatz», den ich mir einmal nach einem Seelsorgegespräch aufgeschrieben habe: «Ich bin wachsam und realistisch. Ich habe ein JA zur unvollkommenen Situation.» Ich will wachsam durchs Leben gehen, mit offenen Augen. Vor allem zu den unvollkommenen Momenten will ich ein JA finden. Meine Seele sehnt sich nach Vollkommenheit, die werde ich einmal bei Gott haben. Im Hier und jetzt möchte ich lernen versöhnt mit meiner Unvollkommenheit zu leben. Es scheint mir, wenn das möglich wird, dann ist die Realität nicht mehr so einschüchternd und wenn ich im Hier und Jetzt bin, dann erlebe ich plötzlich, völlig unerwartet, kleine vollkommene Momente.

So zu Beispiel auch, als mein Sohn wieder zu Hause war, nach 2 Wochen Spanien. Ich sass milde deprimiert am Tisch, weil der Ehegatte am selben Tag an dem er heimkam, auch schon wieder für eine weitere Woche abschwirrte, als mein Sohn mich mit «Mamma-verliebtem» Blick anschaute und sagte: «Mamma, wir assen in Spanien zweimal Poulet (Hühnchen). Aber du machst einfach das beste Poulet der Welt!» Da strahlt er mich an, mein 6 jähriger Sohn und ich schmelze innerlich dahin und weiss: Das ist ein realer UND vollkommener Moment – einfach fantastisch!

 

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