Von mühsamen Verbänden & Lebensweisheiten

In meinen ganzen Jahren als Pflegefachfrau, gehörte ER nie zu meinen Freunden: Der Wattekompressionsverband! Die nicht Fachkundigen unter euch stellen sich jetzt wahrscheinlich umherspritzendes Blut und adrenalinschäumende Notfallaktionen vor – denn da muss man doch einen Kompressionsverband anbringen, oder nicht? Das haben wir doch alle im 1. Hilfe Kurs gelernt, damit wir dann auch ja fit für den Führerausweis und seine Tücken waren... 


Während die Chance, dass wir jemals an einen Unfall heranfahren, bei einigen Prozenten liegt, ist es doch sehr viel wahrscheinlicher, dass ich als Pflegende einen Wattekompressionsverband anlegen muss.

Und zwar ganz unspektakulär, manchmal täglich und immer an zwei Beinen desselben Klienten. Im weitesten Sinne ist es auch eine lebensrettende Massnahme, soll doch durch den leicht ausgeübten Druck der Binden, die Durchblutung unterstützt und die geschwollenen Beine wieder schlanker werden und dies wiederum das Herz entlasten. Eine super Sache also, wenn da nicht das elende Einwickeln wäre! Zuerst ein Baumwollstrumpf, dann eine Wattebinde. Bis dahin sind noch keine besonderen Fähigkeiten gefragt, aber jetzt geht es mit den Binden weiter, die mit genügend Druck, jedoch keinesfalls einschneidend; immer gleichmässig straff von Vorderfuss bis Knie gewickelt werden.

Wie gesagt; wir waren nie Freunde und die meterlangen Binden wollten einfach nie wie ich wollte. Das ganze Unterfangen ist zeitaufwendig und für mich war es stets unbefriedigend. Wieviel ist denn genug Druck? Das Empfinden der Menschen ist so verschieden, dass es schwierig ist ein Mass zu finden. Dazu kam, dass die Binden manchmal nicht satt sondern völlig verknittert über Fersen und Knöchel waren. Während meiner Arbeit im Krankenhaus war ich eher selten mit dieser unerfreulichen Beschäftigung konfrontiert und das war mir gerade recht. Jetzt bei der SPITEX sieht die Sache schon anders aus und Beine einbinden oder Stützstrümpfe anziehen, gehört zu einem unserer Kerngeschäfte.

Während meiner Einführungszeit konnte ich auch einen Tag mit unserer Wundexpertin unterwegs sein und ganz viel über Verbände dazulernen. Dazu gehörte auch das korrekte Anlegen eines Wattekompressionsverbandes… Die Expertin schaute mir eine Runde zu und dann sagte sie: „Andrea, du kannst die Binde nicht zwingen in einem dir gewünschten Verlauf zu rollen. Du musst ihr selber den Weg überlassen. Dort wo sie durchgehen will, dort gehst du mit.“ Das war so simpel und wirkungsvoll, dass ich eines dieser grossen „Aha Erlebnisse“ hatte und das Resultat: perfekt eingebunden Beine! Vielleicht werden wir nie Freunde werden, der Wattekompressionsverband und ich, aber wir sind inzwischen gute Kollegen geworden – ich zwinge ihn nicht, dafür kooperiert er von alleine und erfüllt seinen Zweck!

Wie meistens bei mir, sind es genau diese alltäglichen Begebenheiten, die plötzlich einen viel tieferen Sinn bekommen. Eine so simple technische Lektion, wird plötzlich zu einer wertvollen Lebensweisheit. Die einen würden es vielleicht philosophieren nennen, ich nenne es „Reden Gottes“.

 

So war ich letzte Woche bei einer Klientin und band ihr die Beine ein. Bei der Ferse enstand plötzlich ein unschöner Zwischenraum und die Binde lag nicht schön übereinander. Ich wollte etwas nachkorrigieren und erreichte damit nur, dass die Binde zerknitterte. Da erinnerte ich mich an die Worte der Wundexpertin und mit einiger Überwindung entschloss ich mich, dem Verlauf der Binde zu folgen. Nach zweimal um dem Knöchel wickeln, kam ich mit der Binde bei genau dem Loch vorbei,, welches mich anfänglich so störte¨! Plötzlich schoss mir ein Gedanke durch den Kopf: „ Das ist wie im Leben; da gibt es auch Dinge, die du nicht zwingen kannst in eine bestimmte Richtung zu laufen, denn sie laufen genau ihrer Bestimmung nach und erfüllen damit ihren Zweck!“ Dieser Gedanke liess mich dann längere Zeit nicht los. Wie oft versuche ich Dinge oder sogar Menschen mit aller Kraft in eine mir gewollte Richtung zu zwingen oder zu beeinflussen, weil ich das Gefühl habe, ich wisse genau, welche "Löcher" noch verbunden werden müssen.Das Resultat ist dann jeweils alles andere als befriedigend und kann ganz schön "verknittert" rauskommen. 

 

Letztes Jahr zum Beispiel, als bei uns eine einschneidende Veränderung bevorstand und ich wieder zurück auf meinen Beruf musste/durfte/sollte/wollte. Einige von euch erinnern sich vielleicht an den "Kopf in den Sand" Blogpost. Ich wusste, dass ich auf's 2017 eine Job suchen musste. Wusste aber weder was, noch recht wie. Wie ein grosses Loch starrte mich diese Ungewissheit an und ich hätte sie am liebsten sofort mit aller Kraft gelöst und eine Lösung gehabt. Ganz nach dem Motto, sofort überdecken, damit alles wieder gut ist.  Stattdessen, musste ich die Ungewissheit ein paar Monate aushalten und es auf mich zukommen lassen, es entstehen und somit werden lassen. Genauso war es, während dem ich mit dem Lauf der Dinge mitging, immer das ungewisse Loch meiner Zukunft im Hinterkopf, führte eines zum andern und plötzlich war die Zeit gekommen, um mich der Aufgabe zu stellen. Das Resultat? Ein sauber abgedecktes Loch, eine Lösung die bis zum heutigen Tag ihren Zweck erfüllt.

 

Auch in meiner Beratungsarbeit kommt die "Bindenweisheit" zum Tragen. Wenn ich mich im Gespräch mit einem Ratsuchenden befinde, sehe ich manchmal genau solche Löcher, oder Baustellen, die es in meinen Augen zu bearbeiten gilt. Wenn ich jetzt aber versuche mein Gegenüber in "meine" Richtung zu zwingen und ihm meinen Verlauf und mein Tempo vorgeben will, dann bringe ich ihn, trotz aller gut gemeinten Absichten, in den Widerstand. 

Als Beraterin bin ich gefordert ganz bei meinem Ratsuchenden zu bleiben. Ich darf ein Gespräch zwar führen, aber nie in die Richtung die mir jetzt grad wichtig scheint. Ich darf mit ihm mitgehen und auch mal ein "Loch" stehen lassen, denn die Erfahrung zeigt, er stösst von selber irgendwann darauf und dann ist die Zeit reif. 

 

Ich kam zum Schluss, dass es dem Leben und seiner Bestimmung manchmal mehr dient, wenn man störende Löcher, ungewisse Situationen, offene Fragen, unfertige Entscheidungen, auch einfach mal stehen lassen kann. Das heisst nicht, dass ich sie ignorieren soll, keinesfalls, sondern lediglich, dass ich den Mut haben darf, loszulassen und dem Leben oder Gottes Wegen zu folgen. Wenn ich seinem Verlauf folge, dann werden auch diese Löcher irgendwann gefüllt, anders als ich es vielleicht wollte, oder es mir vorgestellt habe, aber immer so wie es sein soll und so wie es schlussendlich Sinn macht, im grossen Ganzen betrachtet.

 

 


Kommentar schreiben

Kommentare: 1
  • #1

    miri (Sonntag, 18 März 2018 21:17)

    das thema loslassen & vertrauen, dinge nicht sofort optimieren zu können, ist bei mir auch immer wieder aktuell.
    drum: "gott, schenke mir mut loszulassen & dir auf deinen wegen zu folgen!"
    danke für deine inspirierenden worte! bhüet di*